Fortsetzung des Portraits lich 98 sein. Ihre Stimme ist fest, ihre Gedanken klar, ihr Blick wach. Da fragte ich mich: Ist es eigentlich Ruth, die ungewöhnlich ist – oder ist es unser Bild davon, wie eine fast Hundertjährige zu sein hat? Vielleicht ist das, was sie lebt, gar keine Ausnahme – sondern das, was eigent- lich normal sein könnte, wenn man sich ein Leben lang bewegt. Wenn Ruth Girstenbrey das Gelände des SV Esting be- tritt, dann spürt man sofort: Hier kommt jemand, der dazugehört – nicht nur, weil sie seit über fünf Jahrzehn- ten Mitglied ist, sondern weil sie den Geist des Vereins verkörpert wie kaum eine andere. 98 Jahre alt ist Ruth, geboren 1927 im niederschlesischen Neusalz an der Oder. Wenn sie in der Gymnastikstunde die Übungen mitmacht oder konzentriert beim Wadenheber steht, wirkt sie auf mich wacher, präsenter, lebendiger als viele, die Jahrzehnte jünger sind. Dreimal pro Woche steht Training auf ihrem Plan: mon- tags bei Traudl, mittwochs und freitags im Fitness-Stu- dio. „Bei der Traudl gefällt mir, dass man auch mal einen Ratsch halten kann. Es ist die Gemeinschaft, die guttut,“ sagt sie, während sie mit ru- higem Atem weiterdrückt. Kein Pathos, kein Angeben – einfach gelebte Disziplin und Freude an Bewegung. Schon der Weg dorthin ist Training ALTERNATIV: IST TEIL DES TRAININGS: 25 Minuten läuft Ruth zu Fuß zum SVE. Für sie gehört das einfach dazu. „Ich hab ja Zeit,“ sagt sie und lächelt. Eine Reinigungskraft hilft ihr zwar im Haushalt, aber den Einkauf, das Kochen, die klei- nen Dinge des Alltags – all das erledigt sie selbst. Selbst- bestimmtheit ist für Ruth kein großes Wort, sondern täglich gelebte Praxis. Als der zweite Weltkrieg begann, war sie Zwölf. Als er endete, Achtzehn. Eine Jugendzeit, die Entbehrung und Neuanfänge beinhaltete. Vielleicht ist es genau diese Generation, die gelernt hat, sich nicht so leicht beirren zu lassen, weder von Rückschlägen, noch von Alter oder Zeit. Seit 1972 ist sie beim SV Esting, damals in den Stunden von Hermann, dem heutigen Geschäftsführer des SVE. Dem Verein ist sie seither treu geblieben – nicht aus Nostalgie, sondern aus Überzeugung. Bewegung, so scheint es, ist für Ruth mehr als bloße Fit- ness. Sie ist eine Form des Respekts – gegenüber dem eigenen Körper, dem Leben, das man geschenkt bekom- men hat, und der Gemeinschaft, die einen trägt. Wer Ruth beobachtet merkt schnell: Ihre Kraft kommt nicht nur aus den Muskeln, sondern aus einer INNEREN Hal- tung. Neulich beim Arzt erzählte sie, dass sie manchmal Schwindel verspüre. „In Ihrem Alter ist das ganz normal, Sie sind ja sonst fit,“ meinte der Arzt. Ruth war empört: „Das kann doch nicht alles sein! Da muss es doch einen Grund geben!“ Es ist dieser Satz, der alles über sie sagt. Für Ruth ist Alter kein Grund, irgend etwas hinzuneh- men. Was Ruth Girstenbrey zeigt – Tag für Tag, Training für Training – ist, wie gesundes Altern wirklich aussieht: nicht als Rückzug, sondern als aktive Entscheidung. Be- wegung hält nicht nur den Körper stark, sondern auch den Geist wach, die Gemeinschaft lebendig und das Le- ben leicht. Und wenn sie nach dem Training noch einen Moment auf der Bank sitzt, mit den anderen plaudert und lacht, dann weiß man: Das ist es, was den SV Esting ausmacht – Men- schen wie Ruth, die mit 98 Jahren beweisen, dass das Leben, richtig gelebt, keine Altersgrenze kennt. Was mir am meisten imponiert hat, ist Ruths Beschei- denheit. Egal, ob sie gerade Sit-Ups ausführte oder bei der Abduktions-Maschine saß, sie betonte immer wie- der, dass ich ja nicht schreiben solle, dass sie etwas Be- sonderes sei. Und auch, wenn ich ihr das versprach, muss ich das jetzt brechen. Denn: Ruth, du bist ein Vorbild für alle nach- kommenden Sportler-Generationen, wie man mit Be- scheidenheit und Beständigkeit gesund und fit altern kann. Mica 30